Wenn Grenzen unterschritten werden: Theo und sein früher Start ins Leben.

Von Wibke Schumacher

Gewinnender Essay des Asystole Essay Preises 2023

"Manchmal sind es die kleinsten Dinge, welche den meisten Platz in deinem Herzen einnehmen." Pu der Bär (1)

Am Tag von Theos Geburt riecht es draußen nach Frühling. Die ersten Krokusse sprießen, die Sonne scheint. Theos Mutter fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit, wie jeden Morgen. Ein paar Millimeter entscheiden über den Rest ihres Lebens. Sie fährt ein kleines Stück zu weit rechts, ihr Vorderreifen touchiert den Bordstein. Sie fällt, direkt auf ihren Bauch. Fremde helfen ihr auf, eine Frau ruft den Notarzt. „Das ist übertrieben, mir fehlt nichts“, sagt die 38-Jährige. Zwischen ihren Beinen hat sich ein nasser Fleck gebildet. Tränen steigen ihr in die Augen. „Meine Fruchtblase ist geplatzt“, sagt sie, „Ich bin schwanger mit Zwillingen.“ In der App auf ihrem Handy hat sie heute Morgen nachgesehen. Theo und seine Schwester sind heute gerade einmal so groß wie ein Granatapfel. Die Fahrt ins Krankenhaus dauert nur ein paar Minuten. Als sie durch die Türen des Kreissaals geschoben wird, ist ihr Mann da. Sie hat ihn von unterwegs angerufen. 

„38-jährige Fünftgravida, Nullipara, vorzeitiger Blasensprung nach abdominellem Trauma, Di-Di-Gemini, heute Schwangerschaftswoche 22+5, geschätztes Gewicht 400 Gramm. Ich denke, maximaler Therapiewunsch, aber ich bin mir nicht sicher.“ Eine junge Ärztin spricht in ihr Telefon, sie schaut mit dem Ultraschallgerät nach den Babies. Während Theos Mutter einen Venenzugang für die Medikamente bekommt, unterschreibt sie mit der anderen Hand den Aufklärungsbogen für die Narkose. Die Oberärztinnen der Gynäkologie und eine Kinderärztin stellen sich vor. „Der Tag hat eine überraschende Wendung genommen, aber wir kümmern uns jetzt um Sie drei.“ Die Ärztinnen erzählen ihr etwas vom Perinatalzentrum Level 1, von einem statistischen Überleben ihrer Kinder von etwas mehr als 25%. „Das ist zu früh“, sagt Theos Mutter, „sie sind noch nicht so weit.“ 

Alle Kinder, die vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, gelten als Frühgeborene. Doch es gibt einen Unterschied zwischen zu früh geboren und einem Extremfrühgeborenen. Die Nabelschnur der Kleinen sei durch den Blasensprung in den Geburtskanal gerutscht. Das Mädchen werde nicht mehr gut mit Sauerstoff versorgt. Es gäbe jetzt kein Zurück mehr. „Für Frühgeborene in dieser frühen Schwangerschaftswoche befinden wir uns in einer Grauzone. Sie sind hier in einem Krankenhaus, in dem die intensivmedizinische Versorgung ihrer Kinder möglich ist. Wir müssen aber über die Risiken und die Prognose sprechen.“ Dann beginnen die Ärzte zu reden, über die hohe perinatale Sterblichkeit, das Risiko einer Hirnblutung, über die noch nicht zur Atmung befähigte Lunge. Ihre Kinder könnten über lange Zeit zusätzlichen Sauerstoff benötigen, monatelang. Vielleicht würden sie im Rollstuhl sitzen müssen. Es fallen viele Abkürzungen. BPD, ROP, NEC, ANS, CP, PVL. Es könnte aber auch sein, dass sie sich gut entwickeln und zu gesunden Kindern werden. Niemand könne das mit Sicherheit sagen. Jedes Kind sei anders.

Die Maximaltherapie nach der Geburt sei nicht die einzige Option. Auch eine palliative Versorgung sei möglich. Die Eltern könnten dann mit den beiden kuscheln, ihre wenigen Atemzüge auf dieser Welt begleiten – und sie dann gehen lassen. „Das ist kein leichtes Gespräch. Wir gehen Ihren Weg mit. Aber die finale Entscheidung liegt bei Ihnen.“ Die Ärzte lassen sie einen Moment allein, viel Zeit ist nicht. 

Die leitliniengerechte Therapie für Frühgeborene an der Grenze zur Lebensfähigkeit unterscheidet sich von Land zu Land. In den Niederlanden und in Frankreich werden in der Regel ab einem Schwangerschaftsalter von 24 Wochen und 0 Tagen medizinische Maßnahmen getroffen, um das Leben eines Frühgeborenen nach der Geburt zu retten (2). 

Während Kinder in Deutschland regelhaft ebenfalls ab dieser Schwangerschaftswoche versorgt werden, gibt es zusätzlich eine Grauzone. Zwischen der Schwangerschaftswoche 23+0 und 23+6 darf, bei einem geschätzten Gewicht von über 400 g des Kindes und abhängig von der elterlichen Wertvorstellung, die Grenze nach unten erweitert werden. 

Die behandelnden Ärzte müssen die Eltern informieren und aufklären. Sie müssen darauf hinweisen, dass ihre Kinder leiden, eventuell Schmerzen haben und Folgeschäden entstehen könnten. Wenn die Zeit es erlaubt, dann sollen die Gespräche an mehreren Tagen, mit Bedenkzeit und interdisziplinär stattfinden (3). Am Ende sollen Ärzte und Eltern eine gemeinsame, informierte und bewusste Entscheidung treffen. 

Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich ein Wunschkind gewesen sei. Doch manche Wünsche sind größer als andere. Über zehn Jahre lang versuchten Theos Eltern eine Familie zu gründen. Schließlich suchten sie eine Kinderwunschklinik auf - und dann noch eine, und dann noch eine weitere. Viele Tränen, unangenehme Untersuchungen, einen beträchtlichen Geldbetrag und vier Fehlgeburten später die Erleichterung: Endlich waren sie schwanger und sogar mit Zwillingen. Theos Eltern hatten gedacht, jeder bekäme im Laufe seines Lebens ein paar Steine in den Weg gelegt und jetzt waren sie am Ende ihres Weges angelangt. Alles würde gut werden. Nur funktioniert das Leben so nicht. Laut statistischem Bundesamt bekommt eine Frau in Deutschland im Durchschnitt 1,5 Kinder (4). Haben es die Kinder, die geboren werden, deshalb mehr verdient, dass wir um sie kämpfen? 

Theos Eltern entscheiden sich für die maximale Intensivtherapie. Die Narkose wird eingeleitet, Theos Vater hält die Hand seiner Frau. „Ein Junge und ein Mädchen“, sagt der Gynäkologe hinter dem türkisblauen Tuch. 

Während Theo um sein Überleben kämpft, stirbt auf der anderen Erstversorgungseinheit, einen halben Meter neben ihm, seine Zwillingsschwester Emmi. Sie lässt sich nicht beatmen, ihr kleines Herz schlägt zu langsam, sie zeigt keine Spontanbewegung. Die Kinderärzte stellen die Behandlung ein. Möglichst minimalinvasiv bekommt Theo Surfactant verabreicht, eine winzige CPAP-Betamungsmaske bedeckt sein Gesicht, die Ärzte legen einen Venenzugang und eine Magensonde. Vorsichtig wird er auf die neonatale Intensivstation gebracht. An die Wand des Inkubators kleben die Intensivkrankenschwestern einen kleinen Schmetterling aus buntem Papier. „Emmi“ steht dort, als Erinnerung an seine Schwester. 

Am dritten Tag auf dieser Welt platzen in Theos Gehirn ein paar fragile Gefäße. Blut sickert in sein kleines Gehirn ein. Der Liquorabfluss ist behindert, der Neurochirurg legt einen kleinen Schlauch, einen Ventrikulo-peritonealen Shunt, an. Der Shunt entzündet sich, Theo muss mehrfach operiert werden. Er übersteht eine Sepsis, er bekommt Antibiotika, Blutprodukte, Elektrolyte. 

Als ich Theo kennenlerne ist er schon drei Monate alt. Ich bin seit ein paar Wochen Assistenzärztin in der Pädiatrie. Es ist meine erste Rotation. 

„Hat er Schmerzen?“, fragt Theos Mutter. Hilflos sitzt sie neben ihrem schreienden Kind und pumpt Muttermilch ab. Zum Saugen an der Brust ist Theo noch zu schwach. Sie kann ihn nicht selbstständig auf den Arm nehmen. Die EKG-Elektroden, der Beatmungsschlauch, die Magensonde – es sind viel zu viele Kabel für das kleine Frühchen. Theo wiegt mittlerweile 1500 Gramm. Er schreit weiter, läuft blau an und dann hört er auf zu atmen. Die Monitore piepen, meine Kollegin sprintet herein. „Ich brauche eine Absauge“, sage ich. Theo liegt auf meinem Arm, ich stimuliere ihn mit meinen Knöcheln, setze einen kleinen Schmerzreiz. Durch einen Reflux ist Milch zurück in seine Speiseröhre gelaufen. Er hat sich verschluckt. Nach ein paar Minuten ist alles wieder gut. Theos Mutter weint. Seit über 100 Tagen ist sie jetzt im Krankenhaus. Theo verschluckt sich mehrmals am Tag. Ohne die stationäre Versorgung ist er nicht überlebensfähig und das wird noch eine Weile so bleiben.

Die Behandlung eines Frühgeborenen kostet die gesetzliche Krankenkasse geschätzt mehr als 100.000 Euro. Erst kürzlich ist eine Dokumentation in der ARD ausgestrahlt worden, die Krankenhäusern vorwirft, eine Geburt in einer früheren Schwangerschaftswoche zu forcieren, um mehr Geld von den Krankenkassen ausgezahlt zu bekommen (5) - eine schwere Unterstellung.

Die Medizin schafft heute fast alles und gefühlt noch ein bisschen mehr: Seit Ende der 1980er Jahre wird Surfactant eingesetzt, ein Meilenstein in der Versorgung frühgeborener Kinder. Die Flüssigkeit legt sich von innen an die Lungenbläschen und sorgt dafür, dass diese belüftet werden können. Über ihre Venen und Magensonden können wir die Frühgeborenen ernähren, wenn sie zu schwach zum Trinken sind. Stirbt der Darm aufgrund einer Minderdurchblutung ab, dann können wir operieren. Ist das Augenlicht gefährdet, dann werden Wachstumsinhibitoren in den Augapfel gespritzt. Doch nicht bei jedem Frühgeborenen können alle Komplikationen und Langzeitfolgen verhindert werden. Medizinischer Fortschritt ist ein Segen und einer der Gründe, warum ich Ärztin geworden bin. 

Trotzdem denke ich manchmal, dass der Schwellenwert erreicht ist und die Zukunft keine bahnbrechenden Neuerungen bringen wird, um noch kleinere Frühgeborene zu versorgen. Währenddessen wird in den USA an artifiziellen Gebärmuttern geforscht. Lämmer, deren Schwangerschaftsalter etwa einem Frühgeborenen der 23.-25. Schwangerschaftswoche entsprachen, wurden während des Kaiserschnitts an eine sogenannte ECMO angeschlossen6. Das zirkulierende Blut wird so außerhalb ihres Körpers mit Sauerstoff angereichert. Im Anschluss wurden sie in aufwendig präparierte künstliche Gebärmuttern transferiert. Dort wuchsen die Lämmer bis zu vier Wochen lang heran. In den veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie sich das Lamm in der künstlichen Fruchtblase bewegt.

Wer wird in Zukunft entscheiden, wie früh zu früh ist und ob die Medizin Grenzen akzeptieren kann und muss? Sollte eine Schwangere sich mit jedem möglichen Szenario, auch einer extremen Frühgeburt auseinandersetzen und sich für den Ernstfall vorbereiten? Und wie würde ich entscheiden, wenn mein Kind in der 22. Woche droht, auf die Welt zu kommen? Obwohl ich viel über die Prognose und die Komplikationen weiß, bin ich mir selbst nicht sicher. Ich bin noch in der ärztlichen Weiterbildung zum Facharzt. Ich bin froh, dass ich aktuell diese schwierigen Gespräche nicht führen muss. Und ich bin dankbar, dass es ein Team aus erfahrenen Oberärzten, Neonatologen, Psychologen und Seelsorgern gibt, die Theos Familie vor, während und nach der Geburt mitbetreuen. 

Theos Zimmernachbarin ist ein Mädchen, sie wiegt fast dreimal so viel wie Theo. Wir haben sie Lotte genannt. Lotte war kein Wunschkind. Sie weint schrill, ihre Lippe zittert, sie lässt sich schlecht beruhigen – Symptome eines Drogenentzugssyndroms. Als bei Lottes Mutter die Wehen einsetzten, wirkte das letzte bisschen Heroin noch in ihren Venen. Niemand hatte von Lottes Existenz gewusst. Neun Monate lang hatte ihr Herzchen schon geschlagen, ohne dass jemand sie bemerkt hätte. Lotte kam auf unsere Station, zur Überwachung, und um langsam von den Opioiden entwöhnt zu werden, mit denen sie über die Plazenta monatelang versorgt und von ihnen abhängig geworden war. 

Theo und Lotte werden am gleichen Tag nach Hause entlassen. Lotte wird in ihre Bereitschaftspflegestelle gebracht. Dort bleibt sie, bis eine dauerhafte Pflegefamilie für sie gefunden wird. Wir schenken ihr einen Strampler mit kleinen Luftballons darauf und eine Decke. Das ist jetzt alles, was Lotte besitzt. Für Lotte hatte niemand etwas vorbereitet: Keinen Namen, keine Hebamme, keine Wohnung, kein Spielzeug, kein Babybett. Theos Mutter hatte gleich alles doppelt gekauft: Bunte Strampler, Kuscheltiere, ein Zwillingsbettchen, Mützen und Socken in winzigen Größen. Das Leben ist nicht fair und Chancengleichheit existiert nicht. 

Manchmal stelle ich mir vor, wie Theo und Lotte in ein paar Jahren die gleiche Gruppe einer Kindertagesstätte besuchen. Sie sind in der „Löwengruppe“ gelandet. Lotte heißt jetzt natürlich ganz anders. Theos Kopf ist noch ein bisschen zu groß, er ist kleiner als die anderen. In der Turnstunde hat er Probleme, koordiniert auf einem Bein zu stehen. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern. In der Löwengruppe ist er beliebt, denn zweimal im Jahr feiert Theo Geburtstag und seine stolzen Eltern bringen Unmengen an klebrigem Gebäck vorbei, im letzten Jahr sogar einen Kuchen in Form eines Schmetterlings. Lotte kann sich schlecht konzentrieren. Sie ist ungeduldig. Manchmal hat sie Wutanfälle, die niemand versteht. Trotzdem sind sie ganz normale Kinder und ein Wunder, jeder von ihnen. 

Theo und Lotte sind nicht ihre echten Namen und es sind auch nicht ihre vollständigen Geschichten. Aus Datenschutzgründen sind sie ein repräsentatives Puzzle aus Kindern, die ich in meiner ersten Zeit als Assistenzärztin betreut habe. Ich erinnere mich an viele von ihnen. Sie haben meinen Berufsstart geprägt und werden das immer tun. Ich hoffe, es geht ihnen gut.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

References

  1. Hoffmann S. Pu der Bär: die schönsten Zitate. geo.de. 2017 Jan 18.

  2. Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e.V. S2k-Leitlinie Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit 2020.

  3. Geurtzen R, van Heijst AFJ, Draaisma JMT, et al. Development of Nationwide Recommendations to Support Prenatal Counseling in Extreme Prematurity. Pediatrics 2019;143.

  4. Statistisches Bundesamt. Geburten in Deutschland, 2019. (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/_inhalt.html).

  5. Erstes Deutsches Fernsehen. Die Story im Ersten: Wie viel Geld bringt ein Frühchen? | Reportage & Dokumentation. DasErste.de, 2023. (https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/wie-viel-geld-bringt-ein-fruehchen-104.html).

  6. Partridge EA, Davey MG, Hornick MA, et al. An extra-uterine system to physiologically support the extreme premature lamb. Nat Commun 2017;8:15112.