Pflege am Abgrund
von Svenja Weiss
2. Platz des Asystole Essay Preises 2023.
Viele Menschen reagieren auf die Aussage, dass man in der Pflege arbeitet mit Worten wie „Für mich wäre das nichts“ oder „Wow, dass du das kannst“. Dies stellt auch Leah Weigand in ihrem viral gegangenen Poetry Slam Beitrag „Ungepflegt“ fest. Sie implizieren mit ihren Worten eine Mischung aus Anerkennung und Mitleid. „Zur Krankenschwester muss man geboren sein.“ „Die Pflege ist eine Berufung.“ Wir haben uns dafür entschieden in die Pflege zu gehen und viele von uns führen diese Berufung mit Leib und Seele aus. Doch wir stehen auf der Klippe eines wankenden Gesundheitssystems und vor jedem einzelnen von uns geht es steil nach unten. Fehlende Kollegen, schlechte Bezahlung, Überstunden. Work-Life-Balance, ein Fremdwort. Ein Windstoß könnte genügen und uns in die Tiefe werfen.
Es folgt ein sehr persönliches Essay, eine Schilderung, die wohl viele im Gesundheitsbereich nachvollziehen können. Es ist ohne wissenschaftliche Beweise geschrieben, eher aus dem Gefühl und der Erfahrung heraus. Deshalb vorher kurz zu mir: Ich habe nach dem Abitur eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin gemacht. Auch mir gegenüber wurden die obigen Aussagen schon zur Genüge gesagt. Wenn man mich fragt, bin ich Krankenschwester. Diese, für einige abschätzige Bezeichnung, trage ich mit Stolz. „Schwester Svenja“, so habe ich mich jahrelang bei Patienten und Angehörigen vorgestellt. Ich habe nach der Ausbildung stationär im Krankenhaus gearbeitet und nebenher „Gesundheits- und Sozialmanagement“ studiert. Die Arbeit auf Station wurde härter und härter: weniger Personal, mehr Dokumentation, mehr und mehr Aushilfskräfte, die nicht richtig eingearbeitet waren. Ich wollte auf Leitungsebene arbeiten und es irgendwie besser machen, wollte diesen wundervollen, aber unfassbar anstrengenden Job für die Mitarbeiter erträglich machen. Ich ging in die Ambulante Pflege, habe dort als Fachkraft und als Leitungskraft gearbeitet und kann vor allem eins sagen: Ich liebe die Pflege, aber…
Zum großen Aber komme ich gleich, zunächst möchte ich in Worte fassen, was das Schöne im Gesundheitswesen und vor allem in der Pflege ist. Wir arbeiten mit Menschen. Wir dürfen ständig neue, besondere Persönlichkeiten und ihre einzigartigen Lebensgeschichten kennenlernen. Erleben mit ihnen Höhen und Tiefen. Wir sehen in der Klinik, wie das Antibiotikum anschlägt und Symptome verschwinden, wie es dem jungen Mann nach seinem Autounfall besser geht. Wir helfen dabei, dass ein Baby das Licht der Welt erblickt. In der häuslichen Versorgung ermöglichen wir Menschen, in ihrer gewohnten Umgebung bleiben zu können. Oder geben Pflegebedürftigen, die das nicht mehr können, ein schönes, neues zu Hause. Wir sehen, wie Menschen nach einem Apoplex wieder laufen, wieder sprechen, wieder selbstständig essen können, wie das junge Mädchen, dass sich fast zu Tode gehungert hat, wieder stabil entlassen werden kann. Wir sind auch da, wenn die Kraft einen Menschen verlässt.
Eine der Standardantworten von Bewerbern für die Ausbildung zur Pflege ist: „Ich möchte Menschen helfen.“ So banal und doch so aussagekräftig für diesen Beruf.
Wir helfen, wir sind da. In glücklichen und schlimmen Momenten.
Aber leider zwingt uns unser Beruf oft dazu, zwar für die Patienten und Angehörigen da zu sein, aber unser Privatleben zu vernachlässigen. Schichtdienste, Wochenenddienste, Feiertage und wenn man dann mal frei hat, fällt ein Kollege aus und das Telefon klingelt. Sagt man, dass man nicht kann, fühlt man sich schuldig den Kollegen gegenüber, weiß man doch, dass in letzter Konsequenz die übrig gebliebenen Kollegen noch mehr arbeiten müssen. Auch den Patienten kann man durch Zeitdruck und Personalmangel oft nicht gerecht werden. Wie häufig habe ich den Dienst beendet und war unzufrieden mit meiner Arbeit, weil ich wieder nur das Nötigste machen konnte. Ich habe die alte, einsame Dame, die sich nur ein kurzes Gespräch gewünscht hätte, traurig an der Bettkante sitzen lassen, weil das Telefon wieder klingelte. Ich konnte dem jungen Patienten wieder nur die Waschschüssel geben, obwohl er so gerne geduscht hätte.
Vor kurzem sagte eine junge Krankenschwester aus Leidenschaft zu mir: „Ich hab‘ mir immer gedacht: wer macht es, wenn nicht ich.“ Ihre Hingabe für die Patienten ließ sie tief fallen. Unser Pflichtgefühl zwingt uns zum Einspringen, zum Überstunden machen, zum Durchhalten. Wenn im Sommer alle auf ihren Terrassen grillen, stehen wir auf Station, versuchen den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, obwohl das Krankenzimmer nicht klimatisiert ist, die Prognose schlecht und der Besuch womöglich ausbleibt.
Auch als Leitungskraft ist man dem ganzen bröckelnden System ausgeliefert. Man verantwortet eine Patientenversorgung, die nicht mehr sichergestellt ist. Man springt unermüdlich selbst ein, um die Mitarbeiter zu entlasten, um die Patienten irgendwie zu versorgen, jeden Tag mit der Gewissheit, dass man selber bald nicht mehr kann.
Auch ich habe klatschend auf dem Balkon gestanden, für uns Pflegekräfte, die wir endlich gesehen wurden, dachte ich zumindest. Es würde sich etwas ändern, durch die Pandemie werden sich alle besinnen, auf das was wichtig ist… Manchmal denke ich, es muss den Verantwortlichen alles vor die Füße fallen, erst dann werden sie aufwachen. Aber bis dahin sind viele Menschen ohne eine tröstende Hand gestorben, Menschen allein zu Hause verwahrlost, weil der Pflegedienst nicht kommen kann. Weitere Pflegekräfte sind, einen Ausweg suchend, in eine andere Branche gewechselt und die, die allein versuchen, alles aufrechtzuhalten, stürzen ins Bodenlose und werden selbst krank.
Wie oft war ich persönlich schon an dem Punkt, zu sagen, ich mache etwas ganz anderes: Raus aus der Pflege. Aussteigen, solange ich noch kann…
Und dann nimmt diese alte, gebrechliche Dame deine Hand. Sie schließt sie mit beiden Händen ein. Ihren blassen, schmalen Fingern, die hervorstehenden blauen Adern. Die Hände sind warm und weich. Sie schaut dich mit ihren Augen, die nicht mehr richtig sehen können, an und lächelt. „Danke für alles, Schwester!“ Ein wohliges Gefühl macht sich in dir breit. Das ist es, wofür wir das Ganze auf uns nehmen. Die Dankbarkeit der Menschen, die wir versorgen.
Reicht uns die Hand und holt uns von der Klippe, lasst nicht zu, dass wir fallen. Wir würden es für jeden von euch auch tun.
Quelle
Poetry Slam TV (2022, 21. Dezember). Leah Weigand – Ungepflegt. [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=wikIYQvdZcQ&t=12s